Spiegelneuronen von Stefan Kaegi
»Spiegelneuronen« ist ein Experiment. In jeder Aufführung von neuem. Es geht um das menschliche Gehirn und sein Verhältnis zum Körper. Das Publikum ist ein wesentlicher Teil des Experiments, denn es ist eingeladen, nicht nur die Entstehung von tänzerischer Bewegung zu beobachten, sondern sich auch selbst zu bewegen, von seinem Sitzplatz aus als aktiver Teil eines gemeinsamen Systems zu agieren, sich selbst als Teil einer Art großen Gehirns zu erleben.
Ein Spiegel befindet sich dort, wo normalerweise die Bühne ist. Er reflektiert nicht nur die Tänzer:innen, sondern wie ein gigantisches Selfie die ganze Tribüne mitsamt dem Publikum. So wird der Zuschauerraum zum Hauptaktionsort. Das Publikum rückt im Austausch mit den Tänzer:innen selbst ins Zentrum der Bewegungen und erlebt sich nicht nur beim »Verkörpern« von komplexen Bildern, sondern trägt selbst zur Choreographie der Gruppe bei. Über den Spiegel betrachten die Zuschauer:innen sich selbst und die anderen beim Beobachten des Versuchs, in dessen Zentrum sie sitzen.
Neurowissenschaftler:innen gehen davon aus, dass unser Nervensystem nicht zentral gesteuert ist, sondern dass die verschiedenen Bereiche des Gehirns intensiv miteinander kommunizieren, vergleichbar einem Computernetzwerk mit Algorithmen. Wie genau das geschieht, darüber kann auch die Wissenschaft bisher nur spekulieren. Immer wieder werden neue Mechanismen entdeckt. Anfang der neunziger Jahre zum Beispiel die Spiegelneuronen: Diese führen dazu, dass das Gehirn in ähnlicher Weise angeregt wird, egal ob wir selbst etwas tun oder dieselbe Handlung bei einer anderen Person beobachten. Obwohl beim Menschen schwer nachzuweisen, könnten Spiegelneuronen einen Schlüssel zur Erklärung von Empathie und gegenseitigem Verstehen darstellen.
Die dokumentarische Recherche zu diesem Abend bezieht Perspektiven aus Hirnforschung, Biologie, Soziologie und künstlicher Intelligenz ein, die das Publikum in einer Soundcollage einerseits hört, und andererseits erlebt – vielleicht sogar antizipiert oder sich entzieht. Das Verhältnis vom Individuum zum großen Ganzen lädt in diesem Theaterexperiment zu einem körperlichen Nachdenken über Gesellschaft, über eine demokratische Version eines Hyperorganismus ein.
»Spiegelneuronen« ist die erste Zusammenarbeit von Sasha Waltz & Guests und dem Regisseur Stefan Kaegi (Rimini Protokoll). Mit dieser Arbeit setzt die Berliner Tanzcompagnie Sasha Waltz & Guests die Öffnung für neue Handschriften sowie ihr Interesse an künstlerischer Recherche und genreübergreifender Zusammenarbeit mit internationalen Künstler:innen zur Erweiterung ihres Repertoires fort. Aus sehr unterschiedlichen Richtungen kommend, interessieren sich beide Kompagnien für die ungewöhnliche Bespielung von Räumen sowie das interdisziplinäre Arbeiten. Nun untersucht Stefan Kaegi gemeinsam mit Tänzer:innen von Sasha Waltz & Guests sowie dem Publikum das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft mit den Mitteln des Tanzes und einem großen Spiegel.
Uraufführung
14. August 2024
Szene Salzburg